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Sonntag, 3. Januar 2010

Die Winter-Exhibitionisten #3

Die Erika streckt ihre weissen Stempel in die kalte
Winterluft. Insekten werden keine kommen.
Die erstaunlichste Pflanze unter den unerwarteten Winterblühern in meinem Garten ist die Erika (Erica carnea). Sie hat sich über die Jahre zu einem ganzen Teppich ausgeweitet, der sich mehrere Meter entlang der Strasse zieht. Und er blüht mitten im Schnee. Doch wie Primel und Glockenblume wartet die Erika vergeblich auf die Bestäuber. Dennoch streckt sie ihren Stempel geradezu obszön zwischen den Staubblättern hervor als würde sie «Nimm mich!» in die Welt hinaus schreien. Aber keine Biene, keine Hummel, noch nicht einmal eine Fliege nimmt Kenntnis von ihr. Die beissende Biese hat die Luft von Insekten leer gefegt.
Die Flora Helvetica, das Standardwerk zu unseren einheimischen Pflanzen, gibt bei Erica carnea eine Blütezeit von März bis Juni an. Meine sind jetzt schon von unten bis oben voll mit rosafarbenen Glöckchen. Als ob sie sich weigern würde, in einen blütenlosen Zustand zurückzukehren. Zuvor habe ich gesagt, blühen sei die Hölle auf Erden. Doch vielleicht ist es ja auch nicht so. Zumindest der Erika scheint es ein grosses Vergnügen zu bereiten. Und es geht ihr offenbar gut, so wie ihr Teppich jedes Jahr an Fläche zulegt. Und dennoch.
Um zu blühen, durchleben Pflanzen eine Transformation. Nicht nur ihr Äusseres verändert sich, sondern auch die unergründliche Mechanik und Chemie in ihrem Innern. Sie müssen zum Beispiel eine Reihe von Genen einschalten, die bis anhin vor sich hingeschlummert haben. Das wichtigste von ihnen heisst LEAFY. (Das ist Englisch und heisst «belaubt». Forscher geben den Genen meistens Namen, die zu ihnen passen. Die Namen der Gene werden meistens in Grossbuchstaben oder in kursiven Kleinbuchstaben geschrieben.) LEAFY wird in den Zellen der so genannten Sprossspitze aktiv. Sie ist die Wachstumsfront der Pflanze, ihr vorderstes Ende. Von hier aus bildet sie Blätter, Stängel und letztendlich die Blüten. Wegen ihrer vielfältigen Aufgabe weist die Sprossspitze eine Besonderheit auf. Sie besteht aus pflanzlichen Stammzellen, dem Meristem. Es sind unsterbliche Zellen, die ewig jung bleiben. Sie sind es, die sich in jeden beliebigen Zelltyp entwickeln und dabei alle Pflanzenbestandteile hervorbringen.
Querschnitt der Triebspitze der Wasserpest.
Auf der mittleren Achse befinden sich die
Stammzellen (Meristem). Aus ihnen entsteht
die ganze Pflanze. (www.uri.edu)
Bevor nun eine Pflanze zu blühen beginnt, machen die Zellen des Meristems nichts anderes als Stängel, Leiterbahnen, Blätter und nochmals Blätter. Doch das ändert sich, sobald LEAFY aktiv wird. Das Gen sagt den Zellen, sie sollen jetzt Kelchblätter, Kronblätter, Staubblätter und Stempel produzieren, die Grundbausteine jeder Blüte. Am Anfang dieses Prozesses fahren die Stammzellen ihren Energieverbrauch nach oben. Denn eine Blüte ist eben nicht nur ein einfaches Blatt, sondern besteht aus vielen verschiedenen Bestandteilen. Nur schon um die Farbpigmente herzustellen, muss die Pflanze ein halbes Dutzend Gene aktivieren.
Mit der Produktion von Blüten gibt LEAFY den Stammzellen eine gänzlich neue Aufgabe. Es ist die Transformation der Pflanze von einem ungeschlechtlichen Wesen zu einem, das sich nunmehr mittels Sex fortpflanzen kann. In der Folge aktivieren sich viele weitere Gene, die den Zusammenbau der Blüten regulieren. Darunter ist auch eines, das die Aktivität von LEAFY neutralisiert. LEAFY ist nämlich so sehr bestrebt, die Pflanze in Blüten zu schmücken, dass es sogar die Sprossspitze und ihre Stammzellen selbst in eine Blüte umwandeln würde. Das wäre fatal für das weitere Wachstum, denn ohne Stammzellen kann eine Pflanze weder Blätter noch Blüten herstellen. Darum kontrolliert ein Gen, dass LEAFY nur am Rande des Meristems aktiv ist und nicht in seinem Zentrum. So bewahrt sich die Pflanze ihren Jungbrunnen.
Es verursacht meiner Erika also doch einen erheblichen Aufwand, ihren Blütenschmuck das ganze Jahr hindurch aufrecht zu erhalten. Sie tut es trotzdem. Es mag Dinge geben im Innern des Räderwerks von Pflanzen, die wir nicht verstehen – vielleicht nie verstehen werden. Es ist dieses Geheimnis, das die Schönheit und Bedeutung der Artenvielfalt vor unserer eigenen Haustür derjenigen eines Regenwaldes gleich setzt.

Literatur:
Glover, B. J. 2007: Understanding Flowers & Flowering. Oxford University Press, Chapter 8.

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