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Freitag, 25. Dezember 2009

Die Einfahrt #2

Der Algen-Dschungel auf dem Randstein.
Vergrösserung: 1000
Die grüne Farbe kommt von einer besondern Art von Pflanzen, den Algen. Sie gehören zu den einfachsten Lebewesen überhaupt. Unter dem Mikroskop mit 40-facher Vergrösserung sehen sie aus wie ein Faserteppich. Ein Gewimmel aus winzigen, grün getüpfelten Spaghettis. Wenn sich Tausende und Zehntausenden von ihnen an einem Ort zusammen raufen, werden sie als grüner Anstrich auf Randsteinen, Hauswänden und Briefkästen sichtbar.
Wie Zugwagons reihen sich die Zellen aneinander.
Im Innern schimmert das grüne Chlorophyll.
Vergrösserung: 1000
Aber Algen sind viel mehr als nur grüne Farbe. Das wird mir bewusst, als ich die Vergrösserung von 40 auf 1000 stelle. Die Zellen sind jetzt gigantisch. Sie reihen sich wie die Wagons eines Zuges aneinander. Ihre Zellwände sind durchsichtig und geben den Blick in ihr Inneres frei. Dort fällt sofort eine grüne Masse auf, das Chlorophyll. Es nimmt fast den ganzen Platz in einer Zelle ein. Mit ihm stellen die Algen aus Sonnenlicht Zucker und Stärke her. Ich blicke hier sozusagen auf die kleinsten Solarzellen der Welt.
Unter tausendfacher Vergrösserung kommt mir das Gewirr aus armdicken Algenfäden unendlich vor. Ich bewege das Präparat nur um Millimeter nach links oder rechts und durch mein Blickfeld huschen mehrere Meter undurchdringliches Gestrüpp. An den Randzonen lichtet es sich ein wenig und gibt den Blick auf eigenartige grüne Kügelchen frei. Es scheint sich um einzelne Zellen zu handeln. Eine Algenexpertin erklärt mir, dass das eine zweite Algenart ist. Sie ist noch einfacher als die Spaghettis, denn sie macht keine langen Fäden, sondern besteht nur aus einer einzelnen Zelle. Offenbar leben beide Arten nebeneinander, so wie die Brombeeren im Wald neben dem Adlerfarn wachsen. Das zeigt, dass sogar eine Messerspitze voll Randstein-Belag noch trieft mit Leben. Öde ist es nie. Egal wie unscheinbar ein grün schimmernder Belag auf einem Sandstein auf den ersten Blick erscheinen mag.
Die Amöbe (links von Bildmitte) ist der unbekannte
Herrscher der Randsteinoberfläche. Vergrösserung: 1000
Ich fahre noch weiter an den Rand des Algen-Dschungels. Da bewegt sich etwas. Es sieht aus wie ein Wassertropfen, der sich vorwärts tastet. Das Ding hat keine Arme oder Beine. Um sich fortzubewegen ändert es seine Form, streckt seinen Körper wie eine Schnecke in eine Richtung und zieht dann den Rest von sich selbst nach. Es ist ein wandelnder Schleimklumpen, es ist eine Amöbe, eine der ältesten Tierformen der Erde. Sie macht Jagd auf Bakterien im Dickicht der Randsteinoberfläche. Ich bin heilfroh, dass ich nicht die Grösse eines Einzellers habe. Denn Amöben sind ziemlich hinterhältige Jäger. Anders als bei Wolf und Löwe sieht man ihnen nicht an, was sie vorhaben. Keine mit scharfen Fangzähnen bewährte Schnauze, keine Augen, die einem das Fürchten lehren. Die Amöbe ist konturlos; sie verrät nichts von ihrer Gesinnung.
Ihre Strategie ist einfach. Zuerst berührt sie dich. Sie ist sanft wie Wasser. Dann beginnt sie dich nach allen Seiten zu umfliessen. Eine freundliche Umarmung, denkst du dir. Doch eine Sekunde später bist du von der Amöbe vollständig umzingelt. Du bist in ihr, um genau zu sein. So macht sie es mit jeder Nahrung. Sie stülpt ihren Körper einfach über sie und beginnt danach zu verdauen.
Da heisst es immer, es gebe in Schweizer Wäldern keine gefährlichen Raubtiere mehr. Es gibt sie. Und wer weiss, in ein paar Millionen Jahren mutiert vielleicht das Wachstumsgen der Amöbe und statt einigen Mikrometern wird sie plötzlich ein paar Meter gross. Das wäre gewiss das Ende der menschlichen Spezies.
Irgendwo hier im Unterholz wachsen übrigens auch meine Rosen. Wir müssen nur unseren Blick für das Wesentliche noch etwas mehr schärfen.

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