Das Leben der Blattläuse in meinem Garten gibt es jetzt als Comic. Hier bestellen.

Samstag, 30. Januar 2010

Der kleine Unterschied

Ein kleiner Käfer auf dem Tischtuch? Bei dem kalten
Wetter frage ich mich, woher er kommt.
Für mich ist die wichtigste Frage: Woher kommt er? Draussen ist es regelmässig weit unter null Grad und der Schnee liegt knöcheltief im Garten. Von dort also kaum. Während ich darüber rätsle, kriecht der kleine Käfer gemächlich über mein Tischtuch. Die zweite für mich weniger wichtige Frage ist: Was ist er? Zu welcher Art gehört er? Na ja, ein Käfer ist ein Käfer ist ein Käfer. Damit könnte man sich begnügen. Doch im Jahr der Biodiversität ist es durchaus angebracht, sich für einmal genauer zu erkundigen.
Die Antwort liefert ein Forum für Insektenfotos. Demnach ist der vier Millimeter lange Winzling ein Getreidehähnchen. Sein Name rührt daher, dass er sich vor allem von Gräsern und Getreide ernährt. Damit ist jedoch die Art-Frage noch lange nicht beantwortet. Denn das Getreidehähnchen gibt es in zwei Ausführungen. Eine davon trägt den lateinischen Artnamen Oulema duftschmidi und die andere Oulema melanopus. Beide sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Sie gleichen sich sogar so sehr, dass man sie nicht von blossem Auge voneinander unterscheiden kann. Trotzdem sind sie zwei unterschiedliche Arten. Woran sich das erkennen lässt? An ihrem Penis.
Oulema duftschmidi: Penis (rechts)
mit runder Spitze.
Obwohl die Käfer evolutionsgeschichtlich zu den ältesten Insekten gehören, haben es viele von ihnen bis heute nicht geschafft, sich von ihren Nachbarn durch deutliche Merkmale abzuheben. Sie legen nicht sehr viel Wert auf individuelles Aussehen, ja sie scheinen sich geradezu einen Spass daraus zu machen, die Menschen damit zu verwirren. Das macht die Arbeit von Käfer-Experten nicht einfach. Denn sie sind nun gezwungen, nach kleinsten Unterschieden in der Beschaffenheit der Flügeldecken, der Beine oder der Fühler Ausschau zuhalten.
Besonders auffällig sind dabei die Genitalien. Denn die Form von Vagina und Penis sind bei jeder Art einzigartig. Nur die Genitalien derselben Art passen wie der Schlüssel zum Schloss. Das ist die letzte Barriere zwischen den Spezies. Selbst wenn ein Männchen von Oulema melanopus sich mit einem Weibchen von Oulema duftschmidi paaren wollte – es würde nicht klappen. Sein Penis passt nicht in die Vagina der anderen Art.
Oulema melanopus: Penis mit
zulaufender Spitze.
Weil die Genitalien ein so verlässliches Merkmal sind, haben Spezialisten auf dem Gebiet ganze Bücher mit Käfer-Penissen und Käfer-Vaginas gefüllt. Nachschlagewerke für Leute, die genau wissen wollen, wer vor ihrer Nase krabbelt. Doch die Sache hat einen Haken. Denn um einen Käfer anhand seines Penis zu bestimmen, muss man ihm das gute Stück abschneiden und unter dem Mikroskop betrachten. Den Eingriff überlebt der arme Kerl nicht. Natürlich habe ich keine Lust, auf meinem Esstisch ein solches Blutbad zu veranstalten. Stattdessen setze ich mein kleines Getreidehähnchen in der Küche ab. Vielleicht findet es irgendwo eine ruhige Ecke, in der es den Rest des Winters ungestört bleibt.

Sonntag, 24. Januar 2010

Schlafende Drachen

Unter diesem Blatt schlafen zweitausend Jahre
Inspiration.
Auf der Suche nach den Räubern, die meine Häuschen-Schnecken gefressen haben, dringe ich tiefer in den Lüftungsschacht vor. Es ist eng hier drinnen und ich muss meine Knie anziehen, damit ich überhaupt Platz habe. Nach einem Meter habe ich zum Glück bereits die hintere Wand des Schachts erreicht. Überall liegen leere Schneckenhäuser. Wo sind sie? Vor meinem rechten Fuss blitzt etwas unter einem Blatt hervor. Ein gelber Fleck. Ein intensiv gelber Fleck. Der Flecken eines Feuersalamanders. Ich habe die Räuber gefunden.
Feuersalamander sind mit Abstand die prächtigsten Amphibien, die es in der Schweiz gibt. Kein Frosch und kein Molch stellt seine Warnfarben so prominent zur Schau wie er. Sie sind so auffallend gezeichnet, dass man sie bei der ersten Begegnung für Besucher aus einem weit entfernten Regenwald halten könnte. Sie sehen aus, als seien sie aus einem Gemälde entwischt. Sie sind von einer Grazie, die...
Zusammen schläft es sich besser. Drei Feuersalamander
in der Ecke des Lüftungsschachts. Vielleicht wärmen sie
sich am Grasfrosch?
Feuersalamander beflügeln die Gedanken der Menschen. Offenbar haben sie mich bereits mit ihrer geheimnisvollen Aura infiziert. Aber ich bin nicht das erste Opfer. Aristoteles, der Vater der Biologie, schrieb in seiner «Geschichte der Tiere», dass der Salamander beim Durchschreiten eines Feuers dieses auslöschen könne. Mit fatalen Folgen für die Tiere, denn lange Zeit glaubten die Leute dem Gelehrten das Märchen und warfen bei einer Feuersbrunst lebende Salamander in die Flammen.
Ein paar Jahrhunderte Später vermuteten die Alchemisten des Mittelalters gar, dass sich aus den Amphibien Gold gewinnen liesse. Dazu setzten sie die Tiere in Schmelztiegel und heizten ihnen ein. Anschliessend träufelten sie Quecksilber auf die verkohlten Überreste. Das hat den Herren jedoch höchstens Kopfweh beschert, aber sicher kein Gold.
Sie verharren unbeweglich in Stellungen, die bei uns
Rückenschmerzen verursachen würden.
Ausgerechnet hier im Lüftungsschacht tauchen die Feuersalamander nun auf. Es sind drei Exemplare, die eng aneinander geschmiegt in einer Ecke verharren. Keine Bewegung kommt über ihren Körper. Offenbar halten sie ihren Winterschlaf. Dass sie freiwillig eingezogen sind, bezweifle ich. Vermutlich sind sie im Sommer oder Herbst über die Wiese des Gartens spaziert. Da der Schachtausgang direkt an das Gras anstösst, haben ihn die Tiere wohl einfach übersehen und sind plötzlich ein Stockwerk tiefer gefallen. Eine Katastrophe? Nein. Zumindest Futter haben sie genug. Der Nachschub kommt in Form von Schnecken in den Schacht hinab gekrochen. Die Salamander brauchen nur noch das Maul zu öffnen. Das erklärt die grosse Zahl an leeren Schneckenhäuser.

Dienstag, 19. Januar 2010

Der Schneckenfriedhof

Die verwitterte Oberfläche des Schneckenhäuschens
sieht aus wie Marmor.
Eine Expedition in die verborgenen Ecken des Gartens kann manchmal damit beginnen, dass man sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Keller holt. Als ich mich mit der Flasche in der Hand schon wieder zur Tür umdrehen will, fällt mein Blick auf das Fenster. Es ist im Wesentlichen ein Stahlblech mit zwei Scharnieren und an den meisten Tagen meines Lebens sieht es ziemlich unscheinbar aus. Doch heute nicht, heute geht von ihm eine unbegreifliche Anziehungskraft aus.
Ich öffne es. Dahinter kommt erst einmal der Lüftungsschacht zum Vorschein. Es ist ein sehr alter Lüftungsschacht, der zusammen mit dem Haus in den frühen 60er Jahren erbaut wurde. Damals bedeckte man ihren Grund noch mit runden Kieselsteinen. Mit den Jahrzehnten fällt Staub und Dreck auf die Kiesel und diese ganze kleine Welt bekommt das Aussehen einer trockenen Staubwüste. Kein Ort für romantische Abende.
Doch bei diesem Schacht ist das anders. Er ist der einzige des Hauses, der unter freiem Himmel liegt. Regen und Schnee fällt in ihn hinab. Feuchtigkeit, die dafür sorgt, dass aus dem Staub Leben wächst. Und tatsächlich sind die sonst kahlen Betonwände mit Algen, Moosen und Flechten bewachsen. Hängende Gärten, wo ich sie nicht vermutet hätte.
Auch Tiere finde ich hier. Auf den Kieseln ruhen unzählige Häuschenschnecken. Doch es ist nicht ein Mittagsschläfchen, das sie hier machen. Ihre Ruhe dauert etwas länger. Sämtliche Schneckenhäuser sind leer. Wie Augenhöhlen eines Totenkopfs starren ihre Öffnungen mich an. Ich habe einen Schneckenfriedhof entdeckt.
Auch eine tote Schnecke ist noch eine schöne Schnecke.
Zweifellos sind die Schnecken auf der Suche nach Futter hier hinab gekommen. Die mit Algen bewachsenen Wände mussten ihnen wie endlose Weiden vorgekommen sein. Dort konnten sie sich satt fressen. Doch warum sind sie alle tot? Was ist ihnen zugestossen?
Als ich darüber nachdenke, schaue ich mir einige der Häuschen genauer an. Sie sind wunderschön. Manches ist schon halb verwittert, was es wie Marmor aussehen lässt. Andere sind schon so stark von Löchern durchsetzt, dass ihre innere Bauweise zu Tage tritt. Eine Wendeltreppe die sich immer enger windet und dann in einem winzigen Punkt verschwindet. Jedes von ihnen ist ein Kunstwerk. Mein Lüftungsschacht ist ein Museum mit Garten.
Nein. Hier geht es nicht um Kunst. Hier bin ich mitten im Revier eines Jägers gelandet. Das ist mir jetzt klar. Wo sich die Gebeine vieler toter Tiere häufen, ist ein Fleischfresser am Werk. Soviel steht fest. Nur – wie viele Raubtiere gibt es auf dieser Welt, die in einem Lüftungsschacht auf die Jagd gehen? Ein Fuchs kann es nicht sein. Und auch kein Igel. Die passen nicht durch das Gitter. Aber wer dann? Ich werde sie schon bald aufspüren in ihrem Versteck, da bin ich mir sicher.

Donnerstag, 14. Januar 2010

Noahs Wanze

Die Verkehrstechnologie macht es möglich:
Ich begegne der Amerikansichen Zapfenwanze.
Noah ist der ungekrönte Retter der Biodiversität. Mit seiner Arche hat er alle Landtierarten davor bewahrt, in der grossen Flut zu ertrinken. Es muss ihm viel Mühe gekostet haben auf allen Kontinenten der Erde, von jeder Tierart ein Paar zu fangen. Wie er es wohl geschafft hat, sich durch den versumpften Amazonasregenwald zu schlagen ohne dabei im Magen einer Anakonda zu enden? Und wie er gefroren haben muss im Hochgebirge des Himalajas auf der Suche nach dem Schneeleoparden. Wir können ihm für seine grosse Tat ewig dankbar sein.
Doch die Geschichte hat einen Haken. Als nämlich die Arche Noah auf dem Berg Ararat strandete, hat es ihr Kapitän versäumt, alle Pärchen wieder an ihren richtigen Platz auf der Welt zurückzubringen. Arten, die vorher Tausenden und Zehntausende von Kilometern weit voneinander entfernt lebten, waren plötzlich die nächsten Nachbarn. Das Reh traf auf das Krokodil und das Meerschweinchen auf den Luchs.
Niemand war auf den anderen vorbereitet. Bald waren die Schwächsten unter ihnen dem unerwarteten Druck der Konkurrenz und den neuen Räubern erlegen und starben aus – eine ökologische Katastrophe. Darüber steht in der Bibel nichts und vielleicht hat es sich ja auch gar nie so zugetragen. Doch heute im 21. Jahrhundert ist Noahs Alptraum wahr geworden.
Wir leben in einer Welt, in der es nicht nur eine, sondern Tausende von Archen gibt. Der internationale Handel hat sie hervorgebracht. Frachtschiffe, die mit Früchten und Gemüse beladen sind, reisen um den ganzen Globus. Sie sind Brücken zwischen den Kontinenten. Über sie strömen neue Schädlinge, Fressfeinde und Nahrungskonkurrenten von einem Ufer zum anderen. Es ist, als würde Gott die Welt mit einem grossen Löffel einmal umrühren. Im entstehenden Eintopf begegnen sich Lebewesen, die sich vorher nie zu Gesicht bekommen hätten.
Zum Beispiel ich und die Amerikanische Zapfenwanze. Sie kündigte sich vor ein paar Tagen mit einem lauten Brummen an. Natürlich vermutete ich sofort, dass das Geräusch von einem Insekt stammen musste, doch als ich das Ding sah, staunte ich nicht schlecht. Da spazierte eine ziemlich grosse Wanze über das Fenster meines Wohnzimmers.
Vielleicht hat sie im Feuerholz überwintert und ist nun aus einer Spalte in den halb vermoderten Scheiten neben dem Kamin gekrochen. Na ja, es hätte ja sein können, dass es schon Frühling ist. Bei den warmen 24 Grad Celsius im Haus... Aber draussen ist es auch jetzt noch viel zu kalt und der Schnee liegt knöcheltief. Deshalb schickte ich die Wanze hinunter zu den Feuersalamandern im Lüftungsschacht des Kellers. Wenn sie sich mit ihnen verträgt, hat sie gute Überlebens-Chancen. Wenn nicht, wird sie eben von den Amphibien gefressen.

Mehr Informationen zur Amerikanischen Zapfenwanze:
Riesenwanze im Anmarsch
insektenbox.de

Sonntag, 10. Januar 2010

Eiskalt erwischt

Schon in jungen Jahren lernt das Efeu
die ganze Härte des Lebens kennen.
Die Biese hat gestern eine feine Gischt aus Eisregen vor sich her geblasen. Für uns Menschen ist das kein grosses Problem. Wir können uns mit Jacken, Kapuzen und Handschuhen gegen die beissende Kälte schützen. Doch die unbeweglichen Pflanzen sind ihm schutzlos ausgeliefert. Was das im Extremfall bedeutet, sah ich gestern bei einem Spaziergang zum Waldrand in der Nähe meines Gartens. Dort trifft der Wind ungebremst auf die erste Reihe von Bäumen. Wie Geschosse schlagen die kleinen Wassertröpfchen auf den Stämmen ein und gefrieren sofort zu Eis. Als ich ankam, war die Kruste bereits mehrere Millimeter dick.
Einem Baum macht das vielleicht nicht viel aus, doch auf ihm wächst ein ganzer botanischer Garten weiterer Pflanzen, die viel zerbrechlicher sind. Zum Beispiel junges Efeu, das sich vorsichtig den Stamm hochtatstet. Ein Mantel aus Eis umhüllt die zarten Blättchen gänzlich. Nicht viel besser geht es den Flechten. Das Eis hat sich innig an jede einzelne ihrer Schuppen geschmiegt. Das ist der Würgegriff des Winters. Doch wer sich an einen Baumstamm oder Ast festhält, ist wenigstens auf einer Seite nicht den Elementen ausgesetzt.
Nicht so wie die kleineren freistehenden Pflanzen. Das Schicksal des Wolligen Schneeballs ist besiegelt, wie es scheint. Er ist zum «Eisball» geworden. Sein Spross gleicht einer leblosen Skulptur. Nur noch ganz schwach schimmert das Blattgrün durch die dicke Kruste.
Zur Eisskulptur reduziert: der Wollige Schneeball.
Was hier auf den ersten Blick brutal aussieht, ist in Wirklichkeit nicht weiter schlimm. Denn gefährlich wird es für die Pflanzen erst, wenn das Innere ihrer Zellen gefriert. Die wachsenden Eiskristalle würden die Zelle wie Messer aufschlitzen. Dass das nicht passiert, haben sich die hiesigen immergrünen Pflanzen einen Trick einfallen lassen. Je kälter es wird, desto mehr lassen sie den Zuckergehalt in ihren Zellen ansteigen. Er ist ein hervorragendes Frostschutzmittel, welches das Wachstum von Eiskristallen verhindert. Darum macht es weder Efeu noch dem Schneeball etwas aus, für einige Zeit in der Biese zu stehen.

Zur Bildergalerie «Schnee und Eis»

Donnerstag, 7. Januar 2010

Die Winter-Exhibitionisten #4

Die Scheinerdbeere wartet auf den Liebesdienst
der Insekten. Doch niemand hat bei minus vier Grad
Celsius Lust auf ein Schäferstündchen.
Es gibt eine Pflanze in meinem Garten, die sich noch aussergewöhnlicher verhält als die Erika. Nicht nur, dass sie mitten im Schnee blüht – sie bringt sogar Früchte hervor. Die Erdbeere. Allerdings ist sie eine Fälschung. Das merkt man spätestens dann, wenn man die kleinen roten Beeren in den Mund nimmt. Sie enthalten wenig Saft und schmecken nach Karton.
Die Indische Scheinerdbeere, Potentilla indica, sieht unsere Walderdbeere, Fragaria vesca, zum verwechseln ähnlich. Doch nicht nur ihre Früchte sind von einem anderen Stern, sondern auch ihr Verhalten. Sie scheint das Konzept der Winterruhe überhaupt nicht zu kennen. Sie ist ein Workaholic, ein Blüh-Aholic. Dabei geht sie sehr gewissenhaft vor. Wir erinnern uns an die Glockenblume, die verzweifelt ihre blauen Kelche unter den Schneemassen hervorstreckt und dabei einen jämmerlichen Eindruck macht. Nicht so die Scheinerdbeere. Ihr käme es schon gar nicht in den Sinn unter offenem Himmel Wurzeln zu schlagen. Stattdessen hat sie es sich unter der grossen Schwarzkiefer gemütlich gemacht. Dort ist sie von den Naturgewalten einigermassen geschützt. Im Sommer scheint die Sonne nie direkt auf sie. Im Schatten der dunkelgrünen Nadeln ist es angenehm kühl. Und im Winter halten die ausladenden Äste einen grossen Teil der Schneemassen ab. Unter dem Baum entsteht so ein grüner Fleck Rasen inmitten eines Ozeans aus Schnee und Eis. Auf dieser Insel hat sie ihr Netz ausgebreitet. Es ist ein Geflecht von Ablegern, wie wir sie von den echten Erdbeeren her kennen. Jeder Ableger ist eine exakte genetische Kopie seiner Mutterpflanze. Oder anders gesagt ein Klon. Es ist eine sehr effiziente Art und Weise sich zu vermehren. Eine einzige Pflanze kann so zur Gründerin einer ganzen Kolonie werden.
Irgendein Insekt muss sie doch besucht haben.
Oder wird die Blüte auch ohne Bestäubung zur
Frucht?
Doch wie wenn das nicht schon genug wäre, glühen an vielen Stellen die kleinen, gelben Blüten in der kalten Winterluft. Mit Unschuldsmine recken sie sich gegen den Himmel also ob sie noch nie etwas von einer Winterpause gehört hätten. Ehrlich gesagt, ihnen glaube ich das sogar. Erika, Glockenblume und Primel würde ich diesen Schwindel nicht abkaufen. Die wissen ganz genau, wann eine hiesige Pflanze zu blühen hat und wann nicht. Doch die Indische Scheinerdbeere ist entschuldigt. Sie kennt keinen Winter. Sie kommt von weit her aus einer Gegend, in der es immer warm ist. Ihre Heimat ist Süd- und Südostasien. Dort scheint die Sonne zwölf Stunden am Tag.
Unter diesen Bedingungen ist die Produktion von Ablegern eine sehr gute Strategie, um sich gegenüber anderen Pflanzen zu behaupten. Doch noch besser ist es, sich gleichzeitig sexuell fortzupflanzen. Wenn Vögel die Beeren fressen, transportieren sie die Samen in ihrem Darm in andere Gegenden. Ein Flugticket für die kleine Pflanze. Es würde also keinen Sinn machen, das Blühen zu irgendeiner Jahreszeit einzustellen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.
Als die ersten Exemplare mit dem Menschen nach Europa kamen, behielten sie dieses Verhalten natürlich bei. Was die Evolution über Jahrmillionen in die Gene geschrieben hat, gibt man in ein paar Jahrzehnten nicht einfach wieder auf. Vielleicht wird sich die Südländerin in ein paar Tausend Jahren eines Besseren besinnen und im Winter eine Pause einlegen. Wenn nämlich mehr als zehn Zentimeter Schnee fallen, bieten selbst die Schwarzkiefer keinen Schutz mehr. Und unter dem Schnee blüht es sich auch als Workaholic schlecht.
Ein Rätsel bleibt: Wer bestäubt die Scheinerdbeere im Januar?

Referenz:
Die Verbreitung der Indischen Scheinerdbeere in Baden-Württemberg

Sonntag, 3. Januar 2010

Die Winter-Exhibitionisten #3

Die Erika streckt ihre weissen Stempel in die kalte
Winterluft. Insekten werden keine kommen.
Die erstaunlichste Pflanze unter den unerwarteten Winterblühern in meinem Garten ist die Erika (Erica carnea). Sie hat sich über die Jahre zu einem ganzen Teppich ausgeweitet, der sich mehrere Meter entlang der Strasse zieht. Und er blüht mitten im Schnee. Doch wie Primel und Glockenblume wartet die Erika vergeblich auf die Bestäuber. Dennoch streckt sie ihren Stempel geradezu obszön zwischen den Staubblättern hervor als würde sie «Nimm mich!» in die Welt hinaus schreien. Aber keine Biene, keine Hummel, noch nicht einmal eine Fliege nimmt Kenntnis von ihr. Die beissende Biese hat die Luft von Insekten leer gefegt.
Die Flora Helvetica, das Standardwerk zu unseren einheimischen Pflanzen, gibt bei Erica carnea eine Blütezeit von März bis Juni an. Meine sind jetzt schon von unten bis oben voll mit rosafarbenen Glöckchen. Als ob sie sich weigern würde, in einen blütenlosen Zustand zurückzukehren. Zuvor habe ich gesagt, blühen sei die Hölle auf Erden. Doch vielleicht ist es ja auch nicht so. Zumindest der Erika scheint es ein grosses Vergnügen zu bereiten. Und es geht ihr offenbar gut, so wie ihr Teppich jedes Jahr an Fläche zulegt. Und dennoch.
Um zu blühen, durchleben Pflanzen eine Transformation. Nicht nur ihr Äusseres verändert sich, sondern auch die unergründliche Mechanik und Chemie in ihrem Innern. Sie müssen zum Beispiel eine Reihe von Genen einschalten, die bis anhin vor sich hingeschlummert haben. Das wichtigste von ihnen heisst LEAFY. (Das ist Englisch und heisst «belaubt». Forscher geben den Genen meistens Namen, die zu ihnen passen. Die Namen der Gene werden meistens in Grossbuchstaben oder in kursiven Kleinbuchstaben geschrieben.) LEAFY wird in den Zellen der so genannten Sprossspitze aktiv. Sie ist die Wachstumsfront der Pflanze, ihr vorderstes Ende. Von hier aus bildet sie Blätter, Stängel und letztendlich die Blüten. Wegen ihrer vielfältigen Aufgabe weist die Sprossspitze eine Besonderheit auf. Sie besteht aus pflanzlichen Stammzellen, dem Meristem. Es sind unsterbliche Zellen, die ewig jung bleiben. Sie sind es, die sich in jeden beliebigen Zelltyp entwickeln und dabei alle Pflanzenbestandteile hervorbringen.
Querschnitt der Triebspitze der Wasserpest.
Auf der mittleren Achse befinden sich die
Stammzellen (Meristem). Aus ihnen entsteht
die ganze Pflanze. (www.uri.edu)
Bevor nun eine Pflanze zu blühen beginnt, machen die Zellen des Meristems nichts anderes als Stängel, Leiterbahnen, Blätter und nochmals Blätter. Doch das ändert sich, sobald LEAFY aktiv wird. Das Gen sagt den Zellen, sie sollen jetzt Kelchblätter, Kronblätter, Staubblätter und Stempel produzieren, die Grundbausteine jeder Blüte. Am Anfang dieses Prozesses fahren die Stammzellen ihren Energieverbrauch nach oben. Denn eine Blüte ist eben nicht nur ein einfaches Blatt, sondern besteht aus vielen verschiedenen Bestandteilen. Nur schon um die Farbpigmente herzustellen, muss die Pflanze ein halbes Dutzend Gene aktivieren.
Mit der Produktion von Blüten gibt LEAFY den Stammzellen eine gänzlich neue Aufgabe. Es ist die Transformation der Pflanze von einem ungeschlechtlichen Wesen zu einem, das sich nunmehr mittels Sex fortpflanzen kann. In der Folge aktivieren sich viele weitere Gene, die den Zusammenbau der Blüten regulieren. Darunter ist auch eines, das die Aktivität von LEAFY neutralisiert. LEAFY ist nämlich so sehr bestrebt, die Pflanze in Blüten zu schmücken, dass es sogar die Sprossspitze und ihre Stammzellen selbst in eine Blüte umwandeln würde. Das wäre fatal für das weitere Wachstum, denn ohne Stammzellen kann eine Pflanze weder Blätter noch Blüten herstellen. Darum kontrolliert ein Gen, dass LEAFY nur am Rande des Meristems aktiv ist und nicht in seinem Zentrum. So bewahrt sich die Pflanze ihren Jungbrunnen.
Es verursacht meiner Erika also doch einen erheblichen Aufwand, ihren Blütenschmuck das ganze Jahr hindurch aufrecht zu erhalten. Sie tut es trotzdem. Es mag Dinge geben im Innern des Räderwerks von Pflanzen, die wir nicht verstehen – vielleicht nie verstehen werden. Es ist dieses Geheimnis, das die Schönheit und Bedeutung der Artenvielfalt vor unserer eigenen Haustür derjenigen eines Regenwaldes gleich setzt.

Literatur:
Glover, B. J. 2007: Understanding Flowers & Flowering. Oxford University Press, Chapter 8.
Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...